Neunundneunzig

Kurz vor dem Neujahrsfest war ich in die Pariser Zentrale geflogen, um bei Takeda-san aus der Abteilung “Mergers and Acquisitions” meinen Abschlußbericht über den Zusammenschluß der beiden Kautschukfirmen abzuliefern. Wegen des freundlichen Wetters ging ich zu Fuß von meinem Apartment in der Rue de L'Armée des Douze Singes, in dem noch immer der Rauch von Tylers Gauloises hing wie der Geruch von erkalteter Sandelholzasche in einem Kannon-Tempel, am Seine-Ufer entlang bis zu “Firma” am Quai d’Orsay. Die “Firma” hatte sich bei europäischen Arbeitnehmern in den letzten Jahrzehnten durch „Optimierungsmaßnahmen“ und „Synergie-Effekte“ nicht unbedingt beliebt gemacht – die Granitfelsen vor dem Eingang, von vielen Passanten als japanischer Steingarten interpretiert, waren daher auch als unauffällige Sperre gegen mit Dynamit beladene Geländewagen gedacht. Nach Eingabe meines Zugangscodes nach dem Netzhautscan gelangte ich ins Foyer, ein weiterer Code war notwendig, um den separaten Fahrstuhl für das oberste Stockwerk zu bedienen.

Herr Takeda, ein kleiner, rundlicher Mann mit wachem Blick und Stirnglatze, der seine Maßanzüge seit Jahren auf seinen Heimatflügen beim Stop-over in Hongkong bei einem indischen Schneider nach dem gleichen Schnitt fertigen ließ, genoß den Blick auf die Seine. Da ich die Arbeit östlich des Rheins offensichtlich zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, gab es nicht viel zu besprechen. „Sie sehen ein wenig erschöpft aus, Ori-san. Warum machen Sie nicht noch ein paar Wochen Urlaub in Europa? Ihre Projektwohnung in H. ist ohnehin bis zur Jahresmitte bezahlt, und Sie hatten vermutlich nicht einmal Zeit, sich die Stadt anzusehen. Mozart-Jahr, Rembrandt-Jahr – fahren Sie mal nach Salzburg und nach Amsterdam! Und hier“ - er kramte in seiner Vogelaugenahornschreibtischschublade herum und holte einen kirschblütenfarbenen Umschlag hervor und reichte ihn mir mit der leisesten Andeutung einer Verbeugung - „ist ihre Provision.“

Ich wußte, daß meine Audienz damit beendet war. „Noch eine Frage, Takeda-san – wer stand eigentlich hinter meinem letzten Auftrag?“ Die Frage war ziemlich keck, aber ich wußte, daß Herr Takeda eine Menge Humor besaß. Er lächelte feinsinnig. „Wenn zwei Tiger miteinander kämpfen, besiegt sie sogar ein Hund,“ meinte er und ging zum Fenster. „Sehen dort hinten den Pont Neuf? Aus dieser Entfernung sieht er aus, als sei er aus einem einzigen Stein geschnitten. Einem Brücken-Stein, sozusagen.“

Noch am gleichen Abend flog ich zurück nach H.

Die Projektwohnung in H. hatte ich von einem deutschen Kollegen auf Untermietbasis übernommen, nachdem die Hotelküche so langsam zum Halse heraushing. Der Kollege war froh gewesen, für die Monate seiner eigenen Abwesenheit einen vermeintlich ordentlichen, nichtrauchenden Asiaten gefunden zu haben, der ihm keine Eselsohren in seine Bände von Murakami Haruki, Douglas Coupland und Will Self machen würde. Für die Wohnung sprachen drei Gründe: Zum einen war sie citynah, bot aber dennoch viele Jogging-Möglichkeiten im Grünen; zum zweiten lag sie verkehrsgünstig, war aber dennoch einigermaßen ruhig; und zum dritten hatte Sumoboy One in der Nähe eine neue Aufgabe übernommen, so daß wir in seiner Mittagspause gelegentlich BMI-Vergleiche anstellen konnten. Am Freitagabend trafen wir uns jedoch in der Ausgehgegend der Stadt, wo „La Jongleuse“, die mittlerweile für die Luftfahrtindustrie arbeitete, einen Tisch im „Abendmahl“ reserviert hatte. Bei Schwarzwurzel-Tempura mit Rotbarbe und Flugentenbrust auf Polenta zum leider allenfalls mittelmäßigen offenen Hauswein kamen wir natürlich wieder auf das alte Thema – daß Sumoboy One und ich gewichtsmäßig fast wieder am Ausgangspunkt angelangt waren, war offensichtlich. Ich verdrängte diese Erkenntnis mit einigen Bieren. Auch machte ich mir weiter keine Gedanken darüber, warum viele Lokale so dunkel sind, daß man kaum erkennt, was man auf der Gabel hat.

Als ich nach Hause kam, lag Gauloises-Geruch in der Luft. Auf die Schiefertafel, auf der ich mich gelegentlich in Kalligraphie übte, hatte jemand mit Wasser „100 Days“ geschrieben...

Am nächsten Morgen war die Schrift naturgemäß verschwunden. Möglicherweise war am 21. Mai der Beginn der Freibadsaison oder irgend so ein Unsinn. Am Abend folgte ich der Einladung eines Studienkollegen, der während der Woche in einer der großen europäischen Metropolen arbeitet, die Wochenenden jedoch bei seiner Familie am Rande der Stadt verbringt. Da der Gute ein Faible für die Küche der chinesischen Provinz Sichuan hat, hätte Joule-Zählen mir den Spaß und den Abend verdorben: Fritierte Prawns, Auberginentaler mit Schweinefiletfüllung, Sauer-scharfe Garnelensuppe, Pfannengerührter Weißkohl, Würziger Doufu nach Art der Alten Ma (Ma-po doufu), Rinderfilet mit Staudensellerie, und natürlich wieder einmal viel zuviel „bambusblattgrüner“ Zhuyeqing-Schnaps. Meine alte chinesische Köchin hätte ihr Vergnügen gehabt.

„99 Days“ stand auf der Schiefertafel, als ich nachts um zwei daheim ankam. Der Teppichboden wies neue Brandflecken auf. Tyler saß vor der Glotze und guckte eine DVD mit irgendeinem koreanischen Action-Müll. „Nicht nur Mozart-, sondern auch Heine-Jahr,“ meinte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, „mene, mene, tekel. The final countdown. But remember, I’m not your Super Nanny, Ori-Boy.“

Naturgemäß war er am nächsten Morgen wieder verschwunden. Ein Blick auf die Waage zeigte mir, daß er recht hatte – und doch konnte ich mich erst am Nachmittag dazu überwinden, eine Stunde lang zu joggen.

M. “Oriyoki” (Sumoboy Two)

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